Tall Kassab, südlich des Gebirges

Traditionell lagen die meisten yezidischen Dörfer in den Schluchten und Hochebenen des Shingalgebirges. Dorthin hatten sie sich über Jahrhunderte zurückgezogen, um der Macht muslimischer Herrscher und Stämme zu entgehen. Nachdem Qasim Shesho und andere Yeziden sich in den 1970er Jahren dem kurdisch-nationalen Aufstand gegen die irakische Regierung angeschlossen hatten und es auch in Shingal zu kämpfen gekommen war, wurden alle diese Dörfer in das wüstenartige Land um den Berg herum verlegt. Hier wurden sie zu mujama’at, also Großdörfern zusammengelegt. Im Hinblick auf die Bodennutzbarkeit war die Situation hier wesentlich ungünstiger. Außerdem siedelte das Ba’ath-Regime weitere sunnitisch-arabische Familien in der Region an, um die demographische Situation zu verändern.

Als der “Islamische Staat” im Juni 2014 Mosul eingenommen hatte, war es nur noch ein kleiner Schritt in das yezidisch geprägte Shingal, das die Jihadisten mittlerweile so gut wie eingekreist hatten. Yezidinnen und Yeziden waren in öffentlichen Bekanntmachungen als “Teufelsanbeter” und “Ungläubige” bezeichnet worden. Wenn “IS”-Kämpfer ein yezidisches Haus erreichten, schrieben sie “Eigentum des Islamischen Staates” darauf und gingen dementsprechend mit den Menschen und Dingen um, die sich in diesem Haus befanden. Junge Frauen wurden versklavt, damit Kämpfer sie systematisch vergewaltigen konnten, Kinder wurden entführt und in islamistische Ausbildungszentren gebracht, alle anderen Menschen wurden erschossen. Alles Eigentum wurde konfisziert. Alles, was an die yezidische Religion erinnerte, wurde zerstört.

Über lange Zeiten hatten die yezidischen Stämme in Shingal enge Verbindungen mit ihren muslimischen Nachbarn aufgebaut. Diese Verbindungen zerbrachen, als der “IS” anrückte – die meisten muslimischen Dörfern schlossen sich ihnen an, um Schwierigkeiten für sich selber zu vermeiden. Am schlimmsten traf es das südlichste yezidische Dorf, Kocho. Es ist das Dorf, in dem Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad aufgewachsen ist. Nur wenige Menschen entkamen dem “IS” hier, der die Männer in langen Reihen aufstellte und erschoss.

Die Familie Awsman, die mich in Shingal aufgenommen hat und ohne die ich es hier sehr schwer gehabt hätte, kommt ursprünglich aus dem Dorf Tell Kasab (“der Schilfhügel”). Nur Wenige sind hierher zurückgekehrt und so hat das Dorf etwas geisterhaftes.

 

Die Erinnerungen an den Genozid sind in die Reste des Dorfes eingeschrieben. Die letzten aus Lehm gebauten Häuser verfallen langsam.

 

Dutzende Hilfsorganisationen arbeiten in der Region. Eine von ihnen hat sich entschieden, diese halbverfallene Schule mit aufmunternden Sprüchen verzieren zu lassen, anstatt sie wieder in Stand zu setzen.

 

Bahar ist eine kochek, eine Seherin und Heilerin. Jeden Tag kommen Menschen mit psychischen und physischen Leiden zu ihr, gegen die sie ihnen oft ein Säckchen heiliger Erde aus Lalish gibt. Sie ist bekannt dafür, dass sie 2013 aus ihrer neuen Heimat Österreich zurückgekomen ist, um die Menschen in Shingal vor dem bevorstehenden Angriff des “IS” zu warnen, den sie in ihren Visionen gesehen hatte.