Der Weg nach Sinjar

Im Norden von Erbil, gleich neben dem Flughafen, auf den schiitische Milizen noch vor wenigen Monaten an paar Raketen gefeuert haben, liegt das christliche Viertel Ainkawa. Hier ist es ruhig, der Lebensstandard liegt ein gutes Stück über dem irakischen Durchschnitt. Gegenüber der schwer gesicherten amerikanischen Botschaft reihen sich Luxuscafes, armenische Restaurants und Pizzerien aneinander. Umgangssprache ist Arabisch, kurdisch sprechen meist nur die Taxifahrer. Hierher sind viele der irakischen Christinnen und Christen geflohen, nachdem die USA 1991 eine Flugverbotszone über den kurdischen Gebieten eingerichtet hat, weitere kamen aus Syrien, nachdem dort der Krieg begann. Ein Großteil der westlichen Diplomatinnen, Journalisten und NGO-Mitarbeiterinnen lebt hier.

Ich warte hier zehn Tage lang auf die Genehmigung für die Fahrt nach Sinjar und trinke dabei teuren Espresso. Melisande, eine Doktorandin an der Universität Stanford, erklärt mir in mehreren Treffen genau, was ich tun soll, wenn ich dort bin, wohin gehen, mit wem sprechen und was unbedingt vermeiden. Sie ist seit zehn Jahren im Irak und forscht über traditionelle Rechtsprechung und deren Verbindung zum irakischen Staat. Sie ist eine von sehr wenigen Ausländerinnen, die in den letzten Jahren relativ selbstständig in der Region gearbeitet haben. Mittlerweile hat sie sich allerdings als Beraterin bei der UN anstellen lassen, was ein enormes Gehalt und weitgehende Reisefreiheit bedeutet.

Melisande hat mir einen Platz in einem UN-Konvoi reserviert, der normalerweise relativ problemlos durch die gefürchteten Straßenkontrollen der Hashd al-Shaabi kommt. Meine Genehmigung kommt leider einige Stunden zu spät, sodass ich diese angenehme Option verpasse. Als dann die Genehmigung da ist, kommt fast zeitgleich ein Erlass der kurdischen Regionalregierung: die Grenze zum Zentralirak wird mit sofortiger Wirkung geschlossen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Eine solche Grenzschließung ohne jeden Vorlauf bedeutet zum Beispiel, dass zehntausende Arbeiter, die täglich die Grenze passieren, plötzlich auf einer Seite festsitzen. Mit Vorkehrungen gegen Corona ist das nur schwer zu erklären: Alle Geschäfte sind offen und niemand trägt Masken. Und so gibt es auch schnell Berichte darüber, dass viele die Grenze trotz der Schließung überquert haben, und dies noch nicht einmal auf inoffiziellen Wegen.

Der Taxifahrer, der mich zum Abfahrtsort in Richtung Mosul bringt, winkt ab:

Die Grenze ist zu, warte eine Woche oder zwei, dann kannst du fahren. Heute geht da gar nichts.

In der “Garaj Mosul”, wo alle Sammeltaxis in diese Richtung auf Kunden warten, herrscht Chaos. Manche Fahrer sagen, es gibt keinen Weg, aber ein paar Mintuten später fährt ein Wagen vor und der Fahrer fragt mich, ob ich Iraker sei.

Nein? Dann ist das nichts für dich. Wir fahren kleine Wege, da gibt es IS und Terror und Iran, da kannst du nicht mit.

Aber es gibt auch Andere, die sagen, es gebe einen offiziellen Weg, nur sei der lang und man werde oft von schiitischen Milizen kontrolliert. Im Sammeltaxi wollen sie mich nicht mitnehmen, weil sie sagen, dass ich sicherlich ewig aufgehalten werde und sie nicht auf mich warten wollen. Ich muss also ein Taxi für mich allein bezahlen.

Nach einer Stunde haben wir den ersten Checkpoint der irakischen Zentralregierung erreicht, es gibt keine Probleme. Am zweiten wird uns gesagt, dass hier nur durchkommt, wer eine kurdische Aufenthaltserlaubnis hat. Wer aus Erbil kommt, muss auch irgendeinen Stempel aus Erbil haben. Leider hatte der Beamte an der Passkontrolle in Erbil an dem Tag, an dem ich dort ankam, keine Lust mir einen Stempel zu geben, wodurch ich also offiziell nie in Kurdistan gewesen bin. Das bedeutet nun aber auch, dass sie mich nicht zurückschicken können, weil ich so ohne Stempel ja nicht einreisen kann. Also gibt uns einer der Soldaten – und sicherlich nicht der rangniedrigste unter ihnen – einen Tip: Fahrt einen Kilometer zurück und nehmt die kleinen Straßen über die Dörfer. In einer Stunde werdet ihr wieder auf der gleichen Straßen, aber hinter unserem Checkpoint, herauskommen. Wenn ihr von irakischen Soldaten kontrolliert werdet, soll der Ausländer – also ich – am besten so tun, als ob er schläft.

So machen wir es also. Der Weg ist tatsächlich sehr weit, aber mehrere Straßensperren lassen uns unbehelligt durch. Irgendwann werde ich doch aufgeweckt, muss aussteigen und ein wenig arabischen Smalltalk halten. Der Soldat sagt, er wisse genau, warum wir auf diesem Weg gekommen sind, lässt uns aber trotzdem fahren. Kurz vor Mosul geraten wir in eine Kontrolle, an der nicht nur die Armee, sondern auch die schiitischen Milizen beteiligt sind. Und tatsächlich ist die Stimmung auch sofort eine andere. Wir warten eine Stunde und nichts passiert. Immer wieder halten Männer aus den Dörfern der Umgebung an und fragen uns, ob wir Hilfe brauchen. Die Armee, und vor allem die schiitischen Milizen, haben einen ziemlich schlechten Ruf in dieser sunnitischen Gegend und wer von ihnen festgehalten wird, kann sich der Solidarität der Leute sicher sein.

Irgendwann fährt ein Armeejeep vor und nimmt mich mit. Der Taxifahrer folgt uns in eine abseits gelegene Kaserne der Milizen. Ein nicht gerade angenehmer Ort, der mir gewisse Erinnerungen an den Libanon ins Gedächtnis ruft. Wir wecken einen tätowierten Kommandanten, der in der ersten Viertelstunde nach dem Mittagsschlaf nur grunzend kommunizieren kann. Er schaut eine Weile auf mein Visum und ruft schließlich zornig:

Er lügt! Er ist schon 38 Tage im Irak, nicht eine Woche.

Sofort treten zwei Soldaten an mich heran und fragen, was ich mir einbilde, den Kommandanten zu belügen. Ich frage vorsichtig, ob ich ihm kurz zeigen kann, wo das Einreisedatum auf dem Visum vermerkt ist. Er schaut wieder eine Weile auf den Pass.

Richtig, richtig, brummt er jetzt ruhiger. Ein sehr schönes Buch hast du hier!

Er zeigt auf den ausgedruckten Zettel, der meine Genehmigung von der obersten Militärkommandantur in Baghdad darstellt.

Wo hast du das nur her? Wirklich ein großartiges Buch. Ab jetzt garantieren wir für deine Sicherheit. Männer! Macht ein Fahrzeug bereit und eskortiert dieses Taxi nach Mosul!

Wieder auf der Landstraße, fährt jetzt fährt ein Pickup vor uns her, auf dessen Ladefläche sich ein schweres Geschütz (inklusive Schütze) befindet. Wir rasen mit 150 km/h die kaputten Straßen entlang und andere Fahrzeuge lassen uns vorsichtshalber vorbei. Der Schütze dreht sich um und lacht.

Mach deinen Gurt ab, du Trottel!, teilt er mir durch Gesten mit. Ich winke freundlich zurück.

An den nächsten drei Checkpoints halten wir gar nicht erst an. Als wir in Mosul sind, machen wir noch einige Fotos mit den Soldaten, die jetzt auch unbedingt meine Facebookfreunde werden wollen, und fahren dann allein weiter.

In der dunklen, verwinkelten Stadt irren wir eine Weile umher und suchen nach einem Taxi, dass um diese Uhrzeit noch nach Sinjar weiterfährt. Ich bin nicht gerade froh darüber hier spätabends in der ehemaligen Hauptstadt des Islamischen Staates herumzufahren. Als wir schließlich ein Taxi finden, macht mein kurdischer Fahrer Fotos vom Nummernschild und dem Ausweis des Mannes, der mich weiterfährt. Er ist ein rundlicher, junger Mann, der zwischendurch immer wieder mit seiner Freundin telefoniert und ihr von seinen Abendteuern mit mir erzählt. Ich höre schon nach einer halben Stunde auf, mir vorzustellen, was ich mache, wenn er plötzlich auf eine Seitenstraße einbiegt, um mich irgendwelchen sinistren Typen zu übergeben.

Es gibt vier Checkpoints auf diesem Weg, sagt er. Sie sind alle schwierig.

Die ersten drei überstehen wir gut. Ein bisschen Telefonieren, von Hunden beschnuppert werden, freundlich lächeln. Aber der letzte, ganz kurz vor Sinjar, hat es in sich. Hier behaupten die Milizen nun wieder, dass ich gelogen hätte. Es gibt verschiedene Unklarheiten bezüglich meiner Beschäftigung im Irak und in Deutschland. Ich überlege kurz, die Friedrich-Ebert-Stiftung zu kontaktieren und mir auf diese Weise meine völlige Harmlosigkeit bescheinigen zu lassen. Letztlich muss wieder der nationale Sicherheitsdienst kontaktiert werden, der befiehlt, mich sofort weiterfahren zu lassen. Allerdings dauert es weitere zwei Stunden, bis ein Offizier kommt, der uns persönlich in die Stadt eskortieren will. Kurz, nachdem wir losfahren, wird klar, dass mein Pass, sowie mein schönes Buch, irgendwo bei den Soldaten verschwunden sind, sodass der Offizier zurückfahren muss, um sie zu finden.

Nach dreizehn Stunden komme ich schließlich in einer Kolonne von Militär- und Polizeifahrzeugen in Sinjar an. Der Weg von Erbil dauert normalerweise ungefähr drei Stunden. Ich werde von einer sehr lieben Familie in Empfang genommen, die die halbe Nacht wach geblieben und vor Angst fast gestorben ist.