Dieser Blog gibt einige Einblicke in die derzeitige Situation der Region Shingal/Sinjar im nördlichen Irak. Schwerpunkt sind Lebensalltag, Politik und yezidische heilige Orte (kurd. ziyaret, arab. mazar). Texte und Bilder sind im Frühling und Sommer 2021 entstanden und geben meine Perspektiven als europäischer Reisender und Anthropologe wieder. Ich spreche nur Arabisch, was die meisten Menschen in Shingal als Zweitsprache beherrschen, während Kurdisch aber ihre Muttersprache ist.

Alle Inhalte dieses Blogs stammen aus dem Material für meine Promotion und können nach Rücksprache und unter bestimmten Voraussetzungen gerne für Informationsveranstaltungen und wissenschaftliche Arbeiten verwendet werden.

Eine kurze Beschreibung meines Promotionsprojektes findet sich hier:

https://www.gkr.uni-leipzig.de/religionswissenschaftliches-institut/forschung/promotionen/

Ich danke allen Menschen in Shingal, allen voran Nishtiman Awsman und ihrer Familie, die mich unterstützt haben und weiter unterstützen, indem sie mit praktischer Hilfe und wunderbaren Gesprächen diese Arbeit überhaupt ermöglichen.

Benjamin Raßbach

benjamin.rassbach@riseup.net

Wadi Bir Jari und die arabischen Dörfer entlang der syrischen Grenze

Nördlich des Sinjargebirges gibt es eine Reihe arabischer Dörfer, die dort zum Teil vom irakischen Staat in den 1970er Jahren gegründet wurden, um die demographische Zusammensetzung der Region zu Ungunsten der kurdischsprachigen YezidInnen zu verschieben. Diese Dörfer liegen direkt an der Grenze zu Syrien und sind deshalb gleichsam zwischen den yezidischen Gebieten und der Grenze eingezwängt.

Die traditionelle Lehmbauweise ist hier noch öfter zu sehen als in anderen, weniger isolierten Gegenden. Paradoxerweise betonen die Menschen im Irak immer wieder, wieviel besser die Lehmhäuser waren, wieviel besser sie gegen Kälte und vor allem gegen die Hitze des Sommers geschützt haben – die Temperaturen erreichen hier im Juli und August 50 Grad im Schatten. Trotzdem ist der gesellschaftliche Druck zu groß, als dass die Gelegenheit, ein Betonhaus zu bauen, nicht genutzt werden würde. Ein Haus aus Beton ist das grundlegende Zeichen für Fortschritt und Wohlstand.

Die Soldaten an der syrischen Grenze halten es für notwendig, uns in die arabischen Dörfer zu eskortieren. Auch hier gibt es überall schwere Schäden aus dem Krieg, die aber wohl nicht durch den “IS”, sondern durch kurdische Truppen bei der Rückeroberung verursacht wurden. Die arabischen Dörfer stehen unter dem Generalverdacht, sich den Jihadisten angeschlossen zu haben, obwohl mir einige Fälle bekannt sind, in denen Araber aus der Grenzregion den in die Berge geflüchteten YezidInnen Hilfe angeboten haben. Das traditionelle kriv-System ist hier noch lebendig – yezidische und muslimische Kinder bekommen einen Paten in der jeweils anderen Gemeinschaft und diese Verbindung erhält eine der Blutsverwandtschaft ähnliche Bedeutsamkeit.

Wir werden von den lokalen Vorstehern der Dörfer empfangen. Der Sheykh greift wohl nach dem Arm des Offiziers, um ihm die Ernsthaftigkeit einer Einladung zum Mittagessen auszudrücken. Höflichkeit kann hier durchaus Formen annehmen, die ein ungeschultes Auge an körperliche Gewalt erinnert.

Das Dorf trägt die architektonischen Spuren der von Saddam Husseins Vorgänger planmäßig angelegten Siedlungen. Hier finden sich oft die Ursprungsdörfer als Straßen oder Viertel wieder.

Das Camp Zerdeshti, auf der Hochebene des Shingalgebirges

Das Camp Zerdeshti beherbergt immer noch ungefähr 2000 Menschen, nachdem im August 2014 Zehntausende hierher geflohen waren. Viele von ihnen sind mittlerweile in ihre Dörfer zurückgekehrt, in anderen Camps in Kurdistan oder Syrien untergekommen, oder ins Ausland emigriert. Die mit der PKK verbündete YBŞ und die lokalen “Volksräte” stellen die Verwaltung und die Polizei.

Bauern bearbeiten ein Feld mit einem handgezogenen Pflug. Auf der Hochebene, wie auch am Fuß der Berge gibt es fruchtbares Land – einer der Gründe, warum die Region vermutlich seit Jahrtausenden besiedelt und umkämpft ist. Einer der wenigen positiven Nebeneffekte des “IS”-Angriffs ist die Wiederbesiedlung der Bergregionen. Nachdem die irakische Regierung die Menschen hier in den 1970er Jahren zwangsumgesiedelt hatte, haben hier mehr als 30 Jahre lang nur wenige Menschen gelebt. Das Camp Zerdeshti aber verwandelt sich heute Stück für Stück in eine feste Siedlung und auch in anderen Gegenden auf dem Berg werden jetzt wieder Häuser gebaut. Tausende Oliven-, Granatapfel- und Feigenbäume wurden gepflanzt und bilden eine neue Einnahmequelle für die Region, die momentan stark von den Geldern der NGO’s abhängig ist.

Hier ist der lokale “Frauenrat”, ein Haus, das Frauen und Kindern vorbehalten ist und in dem nach Lösungen für die vielen gesellschaftlichen Probleme gesucht werden, die die Frauen betreffen.

Die Stadt Sinjar, vom Berg aus gesehen

Eine Familie, die weit oben in den Bergen von Schafzucht und Obstanbau lebt

Dieses Monument aus Beton erinnert an ein mit einem Geschütz bestücktes Fahrzeug, das auf einer der Hauptzufahrtsstraßen in die Berge benutzt wurde, um die herauffahrenden “IS”-Terroristen davon abzuhalten, die Geflüchteten auf der Hochebene zu erreichen. Es gibt viele Geschichten, die sich um dieses Fahrzeug drehen – wer es wann benutzt und hat und welche Heldentaten damit vollbracht wurden. Wie immer gibt es auch hier keine einheitliche Erzählung. Mit Sicherheit drückt dieses Denkmal aber aus, dass hier der Angriff eines übermächtigen Feindes mit völlig unzureichender Bewaffnung gestoppt wurde.

Die Einweihung des Sheykh Hasan Schreins

Als der “Islamische Staat” in Shingal einfiel, zerstörte er heilige Orte aller Religionen, sofern es sich nicht um gewöhnliche sunnitische Moscheen handelte. Gerade im Süden von Shingal wurden die meisten yezidischen Schreine gesprengt. Einer dieser Schreine, der dem Heiligen Sheykh Hasan geweiht war, wurde nun wieder aufgebaut und in einer großen Zeremonie eröffnet. Hunderte Menschen, sowie die wichtigsten religiösen Führer und die lokale Presse, waren anwesend.

Mitglieder des höchsten religiösen Rates, die meisten von ihnen aus Lalish in Kurdistan, lassen sich fotografieren und von Drohnen filmen.

Die heiligen Instrumente, eine Rahmentrommel und eine Flöte, werden gespielt.

Das Hilal ist ein Objekt, das rituell auf die Spitze des neuen Schreins gesetzt wird. Abwechselnd dürfen verschiedene Männer es tragen, bis die ganze Gruppe an dem neuen Schrein angekommen ist.

Die ganze Versammlung beobachtet, wie ein junger “Mann der Religion” das Hilal auf die Spitze des Schreins setzt. Leider kommt es zu Komplikationen, weil das Objekt nicht in die Aushöhlung passt.

Nach einigen Minuten hört die Musik schlagartig auf und die Menschenansammlung verlässt den Ort des Geschehens. Nur ich stehe noch vor dem Schrein und warte geduldig, bis Mam Fakhr das Hilal auf den Schrein gesetzt hat. Die Geschichte spricht sich schnell herum und bringt die Leute zum lachen, die sich davon erzählen.

Heilige Orte in Shingal

Der Piri Awra Schrein

Der Piri Awra Schrein wird von Haydar Sheshos Miliz HPE kontrolliert. Die Verteidigung eines Schreins gegen den “IS” berechtigt gewissermaßen dazu, das entsprechende Territorium als Eigentum zu betrachten. Am Checkpoint hängt das Bild eines gefallenen Kämpfers. Während man vermuten würde, dass dieser Ort vom “IS” angegriffen wurde, fanden die Kämpfe aber einige Kilomenter entfernt auf der Hauptstraße statt und die Jihadisten sind nie auch nur annähernd zu Piri Awra vorgedrungen.

Der mijawir (arab.: mitwali), der Hüter des Schreins, erzählt, dass nur lokale Yeziden diesen Ort gegen den “IS” verteidigt haben. Während heute verschiedene politische Parteien bestimmte militärische Erfolge für sich beanspruchen, und damit auch bestimmte Gebietsansprüche begründen, erzählen die meisten lokalen YezidInnen heutzutage, dass es fast ausschließlich die lokale Bevölkerung war, die gekämpft hat – nur oft eben in den Uniformen kurdischer und irakischer Milizen.

Ein Wunschbaum – Frauen kommen hierher, um dafür zu beten und zu opfern, schwanger zu werden.

 

Der Shebel Qasim Schrein

Der Shebel Qasim Schrein ist sicherlich einer der wichtigsten Schreine der Region. Vor seinem Eingang befindet sich das Grab Hamu Shiros, den die britische Kolonialmacht zum Führer der YezidInnen ernannt hatte. Da er de facto aber nur einen begrenzten Einfluss in der Region hatte, konnte er diesen Anspruch nie durchsetzen. Die Dörfer, die von seinem wichtigsten Konkurrenten, Dawude Dawud, kontrolliert wurden, haben die Briten bombardiert, weil Dawud sich hartnäckig weigerte Steuern zu zahlen und junge Männer in den Militärdienst zu schicken.

Ein Wunschbaum am Grab der Seherin Dayi Zero, direkt neben dem Shebel Qasim Schrein. Sie hatte in ihren Wachträumen schon lange davon gesprochen, dass der “IS” einst in Shingal einfallen würde und alle Menschen gezwungen würden, auf den Berg zu fliehen. Das Grab und der heilige Baum werden nun von Frauen mit unerfüllten Kinderwünschen besucht.

Unsere Begleiterin gehört zu einer militärischen Fraueneinheit. Sie geht davon aus, dass Dayi Zero eine Frau war, die sich für ein zölibatäres Leben entschieden hat. Ihr Fahrer, ein lokaler Yezide, widerspricht sofort: Sie sei natürlich verheiratet gewesen. Hier geht es um die entscheidende, und sehr umstrittene, Frage, wie eine Frau zu leben hat, um als ehrenvoll angesehen zu werden. Die Parteien und Gruppen, die sich an Abdullah Öcalan orientieren sprechen meist für eine (temporäre) Trennung der Geschlechter und den Verzicht auf zwischengeschlechtliche Liebe. Für die sehr traditionelle yezidische Gesellschaft in Shingal ist diese Vorstellung wohl schwer zu nachzuvollziehen.

(Eszter Spät merkt hierzu an, dass es in anderen Gegenden des Irak durchaus eine Tradition gibt, nach der von Seherinnen und Sehern im YezidInnentum erwartet wird, dass sie ein zölibatäres Leben führen. Diese Tradition scheint es aber in Shingal nicht zu geben. Außerdem sei Dayi Zero vielleicht die einzige weibliche Seherin, deren Wirken durch einen heiligen Ort an die Nachwelt überliefert wird.)

 

Der Ezi Schrein

 

Der Hajali Schrein

Dieser Schrein ist bekannt dafür, “Wahnsinnige”, zu heilen. Diese Menschen gelten als von Geistern besessen und werden daran erkannt, dass sie von einem Tag auf den anderen der Verstand verlieren oder plötzlich eine andere oder gar keine Sprache mehr beherrschen. Sie müssen eine Nacht im Innern des Schreins schlafen, um geheilt zu werden. Die Kuppel ist über einer Höhle im Felsen gebaut.

 

Im Innern der Schreine befinden sich die peri genannten Tücher, an die ein Wunschritual geknüpft ist. Zuerst soll man einen der Knoten öffnen, damit sich der Wunsch eines anderen Menschen erfüllt, der diesen Knoten gemacht hat. Dann macht man an dieselbe Stelle einen eigenen Knoten und wünscht sich dabei etwas – das dann in Erfüllung gehen soll, wenn jemand anders irgendwann den Knoten öffnet.

 

 

 

Der Schrein Kuchek Lalish

 

Der Pir Zeker Schrein

Einer der shi’itisch-muslimischen Schreine in der Region. Ein uralter Maulbeerbaum war hier wohl lange Zeit Anziehungspunkt für Menschen aus unterschiedlichen religiösen Kontexten. Der “IS” hat den Schrein sofort gesprengt und die goldene Kuppel liegt bis heute in den Trümmern.

 

Der Schrein des Sheykh Shems

Ein heiliger Ort am Fuße eines massiven Felsblocks, in der Nähe des Sheykh Shems Schreins. Hier gibt es nur ein kleines nishangah (kurd., “ein Ort, der etwas bezeichnet/symbolisiert”) aus Lehm, in dem die Besuchenden Kerzen anzünden können und den Rest eines alten Baumes, an den Stofffetzen gebunden werden – nichts weist auf den Namen dieses Ortes hin.

 

Der Schrein des Pirafat

 

Bare – der Schrein des Sheykh Mahamma

Bare wird von der YBS kontrolliert. Der Schrein des Sheykh Mahamma wurde von diesen Gruppen wieder aufgebaut und Swari Gidoki genannt, einem anderen Namen für Mahamma, der vor 50 oder 500 Jahren an diesen Ort gekommen und möglicherweise im Schnee erfroren ist: der Reiter Gidoki. Es gibt unterschiedliche Erzählungen darüber, ob Mahamma ein Muslim oder ein Yezide war. Eine weitere Version besagt, dass im Namen des Ortes, Sheykhe Mahamma, eigentlich zwei Personen stecken: Ein Sheykh und Mahamma. Demnach habe Mahamma einen Sheykh bei sich aufgenommen, für den dann später ein kleiner Gedenkort gebaut wurde. Dieser Ort habe sich zu einem mazar entwickelt.

Ein Mann aus Bare zeigt uns die Gräber, die vom “IS” zerstört wurden.

 

Ein zweiter Schrein in Bare: Daqi Mera

Lokale Kämpfer sollen Geld an den “IS” gezahlt haben, damit dieser den Schrein nicht sprengt. Daqi Mera bezeichnet einen Mann, der “in einer Minute” geboren wurde. Als Daqi Mera noch nicht geboren worden war, hatte sein späterer Bruder einen Hasen getötet. Hasen waren aber für Sheykh Shems, einen anderen Heiligen, heilige Tiere, weshalb dieser den Bruder von Daqi Mera zur Strafe gefangen nahm und folterte. Beim jüngsten Gericht habe der Vater des Gefolterten vor Trauer und Scham geweint und Daqi Mera wurde aus seinen Tränen geboren. Das wiederum führte dazu, dass die Nachkommen von Sheykh Shems sich dem Mazar von Daqi Mera nicht nähern konnten, ohne sofort umzukommen. Ein Pakt wurde geschlossen und jene mussten nun einmal im Jahr ein Opfer für Daqi Mera darbringen, damit sie vor seiner Rache sicher sind.

 

Das Mam Zekî Monument

Hier haben die mit der PKK verbündeten Gruppen ein Monument für Mam Zekî gebaut. Dieser war, bis er hier 2018 von einem türkischen Luftangriff getötet wurde, der wichtigste yezidische Führer in diesem politischen Spektrum. Das Monument ist deutlich der Form eines yezidischen mazar nachempfunden.

 

Ein Kinderfriedhof in Khanasor – aus mir bisher unbekannten Gründen werden Kinder in der Region auf eigenen Friedhöfen beerdigt. Ein kleines Nishangah verbindet den Friedhof symbolisch mit einem bestimmten heiligen Ort in den Bergen. Hier werden in Stoff eingenähte Wünsche hinterlassen.

 

Der Schrein des Sheykh Qureysh

Dieser Schrein ist yezidisch, allerdings war der Friedhof, auf dem er steht, muslimisch – bis die lokalen kurdischen Sunniten 2014 die Region verließen, weil sie – wohl teilweise zurecht – beschuldigt werden, den “IS” unterstützt zu haben. Der Schrein war möglicherweise ein geteilter heiliger Ort, der von MuslimInnen und YezidInnen gemeinsam genutzt wurde.

 

Der Schrein des Sheykh Mend (Nordshingal)

Neben Sheykh Mend befindet sich das kleine Mazar für Hisnalka, über den mir bisher niemand etwas Genaueres erzählen konnte. Der Ort wird, wie so viele andere, von Frauen mit Kinderwunsch aufgesucht.

Sheykh Mend wird traditionell mit Schlangen in Verbindung gebracht. Die Sheykhs, die zu diesem Heiligen gehören, sind dafür bekannt Schlangen mit einem Zauber ruhigstellen zu können. Einer von ihnen hat uns Fotos gezeigt, auf denen zu sehen ist, wir er eine riesige Schlange in der Hand hält.

Das kleine nishangah neben dem Mazar deutet die Formen eines babylonischen Tempels an. Es ist Teil eines neueren Trends unter den Yezidi, sich als eine Art Urreligion im Zweistromland zu verstehen.

Es gibt hier tatsächlich eine Art Hühnerkult: Sheykhs, die zu Amadin gehören, ist es verboten Hühnerfleisch zu essen.

 

Der Schrein der Khatuna Fakhra

Meines Wissens nach der einzige Schrein in Shingal, der einer Frau gewidmet ist

In einer Höhle neben dem Schrein leben Dschinns. Besuchende bringen Essen und andere Geschenke mit und legen sie auf den Teppich. Jedes Mal sind sie nach einer Stunde verschwunden. Unsere Begleiter nähern sich respektvoll und grüßen die Geister. Eintreten wollen sie nicht.

In den Schreinen dieser Gegend hängen Fotos von Verstorbenen aus jenen Familien, die religiös an sie gebunden sind.

 

Khanasor, eine kleine Stadt an der syrischen Grenze

Said Hassan Saido, auf dem Stück Land, das er kürzlich gekauft hat. Said war sein Leben lang Bauer. Seine Kinder sind heute Ingeurinnen, Zahnärzte und höhere Beamte.

Eine ehemalige Polizeiwache, zerstört vom “IS”, um die herum Wälle zur Verteidigung aufgeschüttet wurden.

Said Hasan steht auf der Haupstraße in Khanasor, wo sich an den Strommasten über viele Kilometer die Gesichter derjenigen zu sehen sind, die im Kampf gegen den “IS” hier in der Region gefallen sind. Sie alle gehörten zu Gruppen, die mit der PKK verbündet sind.

Einer unserer Gastgeber hier heißt Sallah. Seine Familie gehört zu den Pirs, die an die Schreine für Sheykh Mend und Hisnalka gebunden sind.

In den Häusern von Sheykhs und Pir finden sich diese Khalat genannten Tücher. Sie verbergen eine Tasche, in die traditionell Geld gelegt wurde. Als sakrale Abstammungslinien haben die Pir- und Sheykhfamilien teilweise von den finanziellen Geschenken der Mirids, also des gemeinen Volkes, gelebt.

Ein Friedhof für die Gefallenen der YBŞ

Tawsî Melek, “der Engel Pfau”, ist die heiligste Gestalt im Yezidentum.

Die Kämpferinnen und Kämpfer der YBŞ waren die wichtigste militärische Kraft, die das Gebirge und die gesamte Region gegen den “IS” verteidigt haben. Sie haben vermutlich zehntausenden Menschen das Leben gerettet. Hunderte von ihnen haben dabei ihr Leben gelassen.

“Der Führer Öcalan hat immer gesagt: Pflanzt Bäume!” Also haben wir hier hinter dem Friedhof angefangen Obstbäume zu pflanzen”, sagt unsere Begleiterin auf Türkisch. Da ich kein Kurdisch spreche und sie kein Arabisch, ist das unsere einzige gemeinsame Sprache.

 

Dieser “Garten des Führers Öcalan” ist ein beliebter Ausflugsort in der Region geworden, unter anderem für Hochzeitsgesellschaften. Auf dem Gelände befinden sich drei Käfige, in denen jeweils eine Bergziege, ein weißer Pfau und ein Löwe dahinvegitieren.

Skiniye – ein verlorener Ort im Westen Sinjars

 

Der Schrein des Sheykh Fakhreddin, zerstört vom “IS”. Niemand hier hatte bisher die Mittel, ihn wieder aufzubauen.

Neben dem Dorf Skiniye, von dem nicht viel übrig ist, liegt der größte Friedhof der Region. Im Hintergrund sind die Gräber derjenigen YezidInnen zu sehen, die 2007 einem jihadistischen Attentat zum Opfer vielen.

Der Versammlungsraum am Friedhof wird weiterhin benutzt, obwohl durch eine Explosion das Dach eingestürzt ist.

Tall Kassab, südlich des Gebirges

Traditionell lagen die meisten yezidischen Dörfer in den Schluchten und Hochebenen des Shingalgebirges. Dorthin hatten sie sich über Jahrhunderte zurückgezogen, um der Macht muslimischer Herrscher und Stämme zu entgehen. Nachdem Qasim Shesho und andere Yeziden sich in den 1970er Jahren dem kurdisch-nationalen Aufstand gegen die irakische Regierung angeschlossen hatten und es auch in Shingal zu kämpfen gekommen war, wurden alle diese Dörfer in das wüstenartige Land um den Berg herum verlegt. Hier wurden sie zu mujama’at, also Großdörfern zusammengelegt. Im Hinblick auf die Bodennutzbarkeit war die Situation hier wesentlich ungünstiger. Außerdem siedelte das Ba’ath-Regime weitere sunnitisch-arabische Familien in der Region an, um die demographische Situation zu verändern.

Als der “Islamische Staat” im Juni 2014 Mosul eingenommen hatte, war es nur noch ein kleiner Schritt in das yezidisch geprägte Shingal, das die Jihadisten mittlerweile so gut wie eingekreist hatten. Yezidinnen und Yeziden waren in öffentlichen Bekanntmachungen als “Teufelsanbeter” und “Ungläubige” bezeichnet worden. Wenn “IS”-Kämpfer ein yezidisches Haus erreichten, schrieben sie “Eigentum des Islamischen Staates” darauf und gingen dementsprechend mit den Menschen und Dingen um, die sich in diesem Haus befanden. Junge Frauen wurden versklavt, damit Kämpfer sie systematisch vergewaltigen konnten, Kinder wurden entführt und in islamistische Ausbildungszentren gebracht, alle anderen Menschen wurden erschossen. Alles Eigentum wurde konfisziert. Alles, was an die yezidische Religion erinnerte, wurde zerstört.

Über lange Zeiten hatten die yezidischen Stämme in Shingal enge Verbindungen mit ihren muslimischen Nachbarn aufgebaut. Diese Verbindungen zerbrachen, als der “IS” anrückte – die meisten muslimischen Dörfern schlossen sich ihnen an, um Schwierigkeiten für sich selber zu vermeiden. Am schlimmsten traf es das südlichste yezidische Dorf, Kocho. Es ist das Dorf, in dem Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad aufgewachsen ist. Nur wenige Menschen entkamen dem “IS” hier, der die Männer in langen Reihen aufstellte und erschoss.

Die Familie Awsman, die mich in Shingal aufgenommen hat und ohne die ich es hier sehr schwer gehabt hätte, kommt ursprünglich aus dem Dorf Tell Kasab (“der Schilfhügel”). Nur Wenige sind hierher zurückgekehrt und so hat das Dorf etwas geisterhaftes.

 

Die Erinnerungen an den Genozid sind in die Reste des Dorfes eingeschrieben. Die letzten aus Lehm gebauten Häuser verfallen langsam.

 

Dutzende Hilfsorganisationen arbeiten in der Region. Eine von ihnen hat sich entschieden, diese halbverfallene Schule mit aufmunternden Sprüchen verzieren zu lassen, anstatt sie wieder in Stand zu setzen.

 

Bahar ist eine kochek, eine Seherin und Heilerin. Jeden Tag kommen Menschen mit psychischen und physischen Leiden zu ihr, gegen die sie ihnen oft ein Säckchen heiliger Erde aus Lalish gibt. Sie ist bekannt dafür, dass sie 2013 aus ihrer neuen Heimat Österreich zurückgekomen ist, um die Menschen in Shingal vor dem bevorstehenden Angriff des “IS” zu warnen, den sie in ihren Visionen gesehen hatte.

Der Schrein des Scherfedin

Zum yezidischen Neujahrsfest besuchen viele Leute die Schreine in den Bergen. Hier befinden sich auch die Friedhöfe, sodass in den frühen Morgenstunden hier der Toten gedacht wird.

 

Es wird Wasser und Essen auf die Gräber gelegt. Später können die Armen sich hier etwas von den Opfergaben mitnehmen.

 

Das ist Nudem. Sie ist sieben und die jüngste Tochter der Familie Khalaf.

 

Der Schrein des Avdel, einen kurzen Spaziergang von Sherfedin entfernt – hier kann man vielleicht erahnen, wie variabel die Architektur yezidischer Schreine war, bevor seit den 2000er Jahren eine sehr einheitliche Bauweise verwendet wurde.

Der Scherfedin Schrein wird von kurdischen Peshmerga bewacht. Er ist damit eine Art Enklave in der Region, die sonst von der irakischen Zentralregierung kontrolliert wird.

Innerhalb des Schreingeländes werden keine Schuhe getragen.

Ein Mitglied der Familie Bahri übt hier das Amt des mijawir aus. Gegen kleine Spenden rezitiert er Gebete für die Gläubigen.

Jeden Dienstag und Mittwoch finded am Abend eine Zeremonie statt, bei der das Oberhaupt der Familie Bahri, Sheykh Ismael, langsam ein heiliges Feuer entzündet.

Qasim Shesho, der yezidische Peshmergakommandant, dem die Verteidigung des Schreins gegen den “IS” zugeschrieben wird, nimmt an dem Ritual teil.

Der Feueraltar wird, wie auch die Gräber und die Türen der Schreine, geküsst.

 

Dieser Ort ist bekannt dafür, dass hier ein Panzer des “Islamischen Staates” auf wundersame Weise explodierte. Dies wird von Einigen als das persönliche Eingreifen des heiligen Sherfedin in den Kampf gedeutet.

Ein Metallhändler in einem Dorf nahe Sherfedin zeigt uns diese Münzen. Er hat sie, so berichtet er, über die Jahre in den Ruinen christlicher Dörfer der Umgebung gefunden. Die meisten von ihnen sind lateinisch beschriftet und zeigen das Gesicht des einen oder anderen römischen Kaisers, wie mir scheint.